Betroffene
Ich darf wieder glücklich sein
Die Prognose nach der Lungenkrebs-Diagnose war sehr schlecht gewesen. Lily hatte eigentlich schon mit dem Leben abgeschlossen. Doch dann hatte sie Glück: eine Immuntherapie wirkte rasch und bis heute.
Die 68-jährige Lily lebt mit ihrem Mann in Niederurnen im Glarnerland. Bei ihr ist immer viel los. Wenn man ihr zuhört, denkt man: Das ist ein Mensch, dem es wahrscheinlich nie langweilig wird. Sie ist voller Ideen. «Früher war meine wichtigste Aufgabe, Mutter zu sein und meine drei Kinder zu unterstützen», erzählt sie. Daneben fand sie auch weiterhin Zeit, um als kaufmännische Angestellte zu arbeiten. Später, als die Kinder studierten, stieg Lily in die Alterspflege ein. Das war schon lange ihr Berufswunsch. Sie bildete sich weiter und arbeitete bis zur Pensionierung im Nachtdienst in einem Altersheim. «Ich mag Menschen», betont sie.
Als junge Frau war Lily aktive Turnerin und nahm als Boden- und Ringturnerin an Wettkämpfen teil. Sie leitete auch lange das Mutter-Kind-Turnen im Dorf. Als sie diese Aufgabe weitergab, erlernte sie ein neues Musikinstrument: die Glarner-Zither. Seither spielt sie in einer Zither-Gruppe, mit der sie schon schweizweit herumgekommen ist, ja sogar bis nach den USA, vom ersten Auftritt in Chicago bis nach New Glarus im Bundesstaat Wisconsin. Sehr viel Zeit verbringt sie mit ihren fünf Enkelkindern. «Das hat erste Priorität», betont sie. So reist sie regelmässig nach Zürich oder Bern, um für die Kinder Grossmami zu sein. Daneben betreut sie einmal wöchentlich ihre 90-jährige Mutter.
Es begann mit Beckenschmerzen …
Am 20. August 2022 bekam die lebensfrohe Lily Beckenschmerzen. Schliesslich wurden diese so stark, dass sie kaum noch gehen konnte. Der Hausarzt machte unter anderem mehrmals Bluttests: Da die Werte schlecht blieben, war die nächste Station die Notaufnahme im Spital. Das war am 9. September 2022. «Sie sind für uns ein grosses Rätsel», sagte ihr eine Ärztin nach den zahlreichen Untersuchungen. Dazu zählte unter anderem die Kontrolle aller wichtigen Organe.
Ab dem 10. September konnte sich Lily wegen der starken Schmerzen nur noch mit dem Rollator oder dem Rollstuhl fortbewegen. Nach einem erneuten CT am 16. September schlug man ihr vor, im Kantonsspital in Chur auf der Abteilung Nuklearmedizin einen PET-Scan zu machen.
Am 22. September 2022 war es so weit. Lily wollte vom behandelnden Arzt direkt nach dem PET-Scan das Ergebnis wissen. Ihr Mann hatte keinen Zutritt und wartete draussen. Ein Arzt setzte sich zu ihr ans Bett. Das Ergebnis war niederschmetternd: ein sehr grosser Tumor im rechten Lungenflügel, Metastasen in beiden Becken und auch noch weitere Signale. «Geringe Überlebenschance» lautete die Prognose.
Rückblickend findet sie es gut, dass sie sofort wissen wollte, was mit ihr los war. Das Warten auf den Bescheid wäre schlimmer gewesen, meint sie. Ihr Mann informierte nach der Diagnose vor der Heimfahrt die Kinder. Zwei der Kinder fuhren sofort los und meldeten: «Wir sind bald in Niederurnen und warten mit einem Znacht auf euch».
Als nächstes lernte sie im Kantonsspital Glarus ihren Onkologen kennen, der sie bis heute begleitet. «Er ist für mich das Ideal eines Onkologen, menschlich und fachlich», schwärmt sie. Er schlug ihr eine Immuntherapie vor, allenfalls ergänzt mit einer Chemotherapie. Die von ihm ausgewählte Immuntherapie zeigte schon nach den ersten Zyklen Erfolge. Lilys Lebensfreude kehrte zurück. Schon bald ging sie wieder in die Zither-Proben. Eine Freundin aus der Gruppe holte die noch schwache Lily und ihre Zither zuhause ab. Sie nutzte auch den Hometrainer zuhause, um wieder zu Kräften zu kommen. Ihre Schmerzmittel setzte sie zwei Monate nach der Diagnose ab. Das war ihr wichtig!
Ihre Immuntherapie soll im September 2024 abgeschlossen sein. Metastasen sind heute im PET-Scan nicht mehr zu sehen. Auch der Lungentumor ist sehr stark geschrumpft. Ausser Augentrockenheit und nach starkem Fokussieren etwas verschwommenes Sehen hat sie keine Nebenwirkungen. «Das Atmen fällt mir etwas schwerer als noch letztes Jahr», sagt sie. Doch damit könne sie gut leben. «Schade, dass nicht alle Betroffenen so gut auf eine Immuntherapie ansprechen», bedauert sie.
Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen
Lily und ihre Familie durchlebten nach der Diagnose schwere Zeiten. «Nach dem PET-Scan und der sehr schlechten Prognose hatte ich mit dem Leben abgeschlossen», erinnert sie sich. Sie spürte eine riesengrosse Trauer. Sie haderte auch und fragt sich: «Warum habe gerade ich das bekommen?». Gespräche mit ihrem Mann, Besuche und Telefonate von Bekannten, den Kindern und den Enkeln lenkten sie von der Trauer ab. Diese Aktivitäten mussten zu Beginn wohldosiert werden. Denn Lily musste sehr starke Schmerzmittel nehmen, war sediert und völlig erschöpft. Sie schlief viel.
Wegen der schlechten Prognose ging es für Lily und ihre Familie auch ums Abschiednehmen. Es konnte ja schnell gehen. Ihre Kinder und die Enkel kamen oft zu Besuch. «Ich war sehr gerührt, aber es war gut so», erinnert sich Lily. Trotz allem antwortet sie auf die Frage, ob in dieser Zeit etwas besonders hart war, mit einem klaren «Nein».
Mit dem ersten Lichtblick zurück ins neue Leben
Lily hätte nie erwartet, dass sich in ihrem Leben etwas so massiv ändern könnte. «Ich war schon als Kind zufrieden mit mir und meinem Leben», erzählt sie. Seit ihrer Erkrankung ist sie etwas vorsichtiger optimistisch als früher. Und sie lebt bewusster. «Ich und mein Mann wollen die gemeinsame Zeit noch besser nutzen und geniessen», sagt sie. Etwa auf Reisen mit ihrem Camper. Sie verhält sich auch im Alltag bewusster. Heute sagt sie es deutlich, wenn für sie etwas nicht stimmt, dies konstruktiv und mit Begründung. Offen miteinander zu reden ist für sie wichtig. Früher war sie zurückhaltender. «Ein solcher Schock ändert schon den Blick auf das Leben», ist sie überzeugt.
Gut vernetzt – gut unterstützt
Lily ist gut im Dorf eingebettet. «Auch deshalb hat sich niemand aus meinem Umfeld zurückgezogen, im Gegenteil», ist sie überzeugt. Einige Bekannte, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte, meldeten sich bei ihr, fragten nach. «Die meisten waren erschrocken, dass es gerade mich getroffen hat», erinnert sie sich. Als sie noch schwach war, bekam sie auch Hilfe aus dem Umfeld. Eine gute Freundin meldete etwa: «Eine Spaghetti-Sauce steht vor der Tür».
Ich habe alles, was ich brauche: ein gutes Umfeld und Gesundheit
Lily lebt heute wieder ein ausgefülltes Leben. «Ich bin sehr zufrieden», erzählt sie. Ihr nächstes Ziel ist der Abschluss der Immuntherapie Ende September 2024.
Jetzt ist Frühling: «Da kann ich auftanken», sagt sie. Besonders wichtig ist ihr, die Enkelkinder aufwachsen zu sehen und sie zu begleiten. Aktuell hat es im Terminkalender keinen Platz für neue Projekte. «Meine Wochen sind ausgefüllt. Und sonst finde ich etwas …», erzählt sie. Das konnte sie schon früher gut.